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Teampartner Pferd
Ein heißer Sommertag neigt sich langsam dem Ende entgegen. Die Luft hat sich etwas abgekühlt und es ist noch hell, sodass ich beschließe, einen kleinen Ausritt mit meiner Stute Julie zu unternehmen. Nachdem ich sie gründlich geputzt und gezäumt habe, schwinge ich mich in den Sattel, dessen Leder an einigen Stellen schon ganz abgenutzt ist. Wir nehmen den uns vertrauten Waldweg, der rechts und links von schattenspendenden Eichen und blauen Kornblumen umgeben ist. Die Luft schwirrt vor Hitze und den emsigen Insekten, die hoffen, etwas Nektar ergattern zu können.
Ich genieße das Gefühl, ganz eins mit meinem Pferd zu sein. Nach einiger Zeit fordere ich Julie mit einem sanften Druck meiner Unterschenkel auf, die Gangart zu wechseln. Sie trabt los. Man hört nur das Trappeln der Pferdehufe auf dem Boden. Ansonsten ist es sehr ruhig. Auf eine friedvolle Art und Weise. In diesen Momenten, wo ich Julies gespitzte fuchsbraune Ohren vor mir sehe, und nur wir beide durch die Natur reiten, fühle ich mich so frei. Ich bin nicht mehr und nicht weniger als ich sein muss. Ich muss gar nichts. Ich bin genug. Für Julie und für mich selbst.
Julie fällt auf meinen Befehl hin zurück in den Schritt. Lobend tätschele ich ihren Hals. Wir biegen in einen etwas schmaleren Feldweg ab. Ich höre das Brummen eines Traktors. Die meisten Pferde haben Angst vor Traktoren. Julie auch. Doch sie vertraut mir und ich vertraue ihr und wir haben schon oft das Vorbeireiten an Traktoren geübt, ohne, dass sie durchgegangen ist. Pferde sind Fluchttiere und haben instinktiv das Bedürfnis, sich aus der „Gefahrenzone“ zu begeben, wenn sich solch ein lautes und furchteinflößendes Gefährt in ihrer Nähe befindet. Der Traktor kommt näher. Beruhigend rede ich auf Julie ein. Ich bin froh, dass wir jahrelang immer wieder geübt haben, an den unterschiedlichsten Traktoren vorbeizureiten. Dennoch macht sich ein ungutes Gefühl in mir breit.
Ich versuche es beiseite zu schieben und keinerlei Nervosität zu verspüren. Jedes Gefühl überträgt sich direkt auf das Pferd. Tatsächlich sind Pferde feinfühliger als die meisten Menschen. Inzwischen ist der Traktor so nahe, dass ich das Gesicht des Fahrers erkennen kann. Er hat buschige graue Augenbrauen und seine Haut ist wettergegerbt. Anders als erwartet ist mir sein Gesicht nicht bekannt. Bei uns auf dem Dorf kennt man sich eigentlich. Er beschleunigt und Julie beginnt unruhig zu werden. Sie reißt erschrocken den Kopf nach oben und schnaubt mehrere Male laut. Wir befinden uns schon so weit rechts des Weges wie nur möglich. Weiter ausweichen geht nicht.
Tatsächlich besitzt der Fahrer die Dreistigkeit, noch etwas zu beschleunigen, obwohl er noch nicht an uns vorbei ist. Er muss doch sehen, dass mein Pferd sehr nervös ist. Ein guter Reiter kennt sein Pferd und weiß, was es als Nächstes tun wird. Ich weiß, dass Julie gleich durchgehen wird, wenn dieses Arschloch nicht gleich langsamer fährt oder – besser noch – kurz anhält. Mit einer Handbewegung signalisiere ich dem Fahrer, dass ich ihm etwas zu sagen habe. Erleichterung macht sich in mir breit, als er daraufhin kurz vor uns zum stehen kommt. „Hallo, wären Sie so lieb und würden bitte kurz stehen bleiben, bis wir an Ihnen vorbeigeritten sind? Mein Pferd hat gerade ganz schön Angst“, sage ich bemüht freundlich und ringe mir sogar noch ein Lächeln ab. „Was denkst du eigentlich, wer du bist?“ brüllt er und tritt aufs Gaspedal.
Julie gibt ein erschrockenes Wiehern von sich und stürmt los. Sie ist nicht mehr zu halten. Ich wusste nicht mal, dass sie so schnell galoppieren kann. Der erste Schweiß bildet sich auf ihrem Fell. Ihre Atmung wird schneller, das Tempo auch. Alles saust an uns vorbei. Ich versuche alles Erdenkliche, um sie zu beruhigen, doch sie hört nicht auf mich und macht keine Anstalten diesen wahnsinnigen Galopp zu beenden. Sie ist vollkommen verängstigt. Schließlich bäumt sie sich auf. Wieder und wieder. Ihre Vorderbeine schwingen hoch in der Luft. Der Sattel verrutscht. Sie steigt erneut. Diesmal verliere ich den Halt und stürze von ihrem Rücken. Obwohl ich schon reite, seitdem ich Windeln trage, bin ich nur selten vom Pferd gefallen. Ich komme auf den harten Boden auf, will direkt wieder aufstehen, um nach Julies herunterhängenden Zügeln zu greifen, doch sie stürmt in einem Mordstempo davon. Ich renne ihr hinterher und schreie dabei ihren Namen.
Leider bin ich nicht allzu schnell, da mein Bein scheinbar verletzt ist. Aber ich habe gerade gar keine Zeit, um so richtig zu realisieren, dass ich übel zugerichtet bin. Alles, was zählt, ist Julie. Ich renne. Und renne. Bilder zeichnen sich vor meinem inneren Auge ab. Ich stelle mir vor, wie Julie in die herabhängenden Zügel tritt und sich das Genick bricht. Eine häufige Todesursache bei Pferden. Oder wie sie über die Hauptstraße rennt und mit einem Auto zusammenstößt. Damit könnte ich nicht leben. Tränen laufen meine Wangen hinab.
Julie ist mittlerweile sehr weit entfernt. Ich habe Todesangst. Doch langsam setzt wieder mein rationales Denken ein. Mir wird bewusst, dass sie weiterrennen wird und dass ich sie nicht einholen werde. Ich muss jetzt ganz genau wissen was zu tun ist. Ansonsten könnte das tödlich enden. Mir kommt eine Idee. Pferde nehmen instinktiv meist den Weg, der zu ihrem Stall führt. Ich rufe einige Leute vom Stall an und schildere ihnen so sachlich wie möglich was passiert ist. Ich sage ihnen, wo sie sich positionieren sollen, um Julie abzufangen und dass sie die Straße absperren sollen. Dann lege ich auf und renne erneut los. Ich muss aussehen wie eine Irre mit meiner blutverschmierten Reithose und meinem tränenbefleckten Gesicht.
Als mein Handy klingelt, gehe ich so schnell ran wie nie zuvor. Sie haben Julie eingefangen. Sie ist tatsächlich in Richtung des Stalls galoppiert. Ich nehme die Beine in die Hand. Am Stall angekommen sind alle furchtbar besorgt wegen meiner Verletzungen, doch jetzt gerade spüre ich einfach nur Glück, als ich mein Gesicht in Julies dicker Mähne vergrabe und ihren Geruch einatme.
Jeder Mensch, der ein Pferd nur als Sportgerät ansieht, als Schleifensammler, sollte einmal durch die Gefühle gehen, die ich gerade erlebt habe. Julie ist mein Freund. Mein Teampartner, den ich gerade fast verloren hätte und ich bin der glücklichste Mensch der Welt, denn sie steht neben mir und ihr geht es gut.
Eine Reportage von Nina Haberlandt (BA-SJ-10-H-VZ, Modul: Sportlehrredaktion I)
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