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Mindens Ballabfang ins Glück lässt OWL beben

Zehn Spieltage hat es gedauert, bis das Team um GWD Minden die ersten zwei Punkte auf ihrem Konto sah. Niemand hat nach dieser Hinrunde damit gerechnet, dass die grün-weißen aus Minden auch in der nächsten Saison in der ersten Liga spielen können. Doch das Wunder ist eingetreten. GWD Minden bleibt ein Handballbundesligist.

Veröffentlicht am 20. August 2022 von

(Minden.) Die Fans sind angespannt. Die Spieler elektrisiert. Die altehrwürdige Kampa-Halle, an der Grenze zum Mindener Ortsteil Hahlen, ist in ihrem grün-weißen Gewand gekleidet. Seit 1970 eröffnet die Halle ihre Tore, fast alle zwei Wochen, für die deutsche Handballwelt. Hitzige Spiele, laute Pfiffe gegen Schiedsrichter oder Gegenspieler und ein traditionsreiches Publikum beheimatet sie. Dennoch lief es in dieser Saison für die Mindener Jungs eher so schleppend wie ein Heber, der langsam ins Tor fällt. Eine Hinrunde mit einigen Tiefs, tiefer als die durch Minden fließende Weser. Die beiden verlorenen Derbys gegen die roten Erzrivalen aus Lübbecke und die blauen, europäischen, Lemgoer sind nur zwei der neuen Niederlagen in der Hinrunde. Der 10.11.2021 wird immer als Tag der Erlösung in Erinnerung bleiben. Ein Sieg gegen die MT Melsungen als Startschuss der Aufholjagd. „Heute hatten wir endlich unser coming out“, so Trainer Frank Carstens auf der damaligen Pressekonferenz.

Ein „Coming Out“ soll es auch heute geben. Man sollte meinen, dass die Fans der Mindener abgehärtet sind, wenn es Spitz auf Knopf kommt. Es wirkt wie eine Wiederholung der letztjährigen Ereignisse. Den auch in der letzten Saison holten die Mindener ein Unentschieden gegen die Eulen am vorletzten Spieltag. Damals hieß das Nicht-Abstieg. Ein sehnlicher Wunsch der Fans in der Kampa-Halle. Die Halle ist in grün-weiß gehüllt. Banner an den Seiten mit den möglichen Nicht-Abstiegshelden. Fans in Trikots sind angespannt, nervös, aufgeregt. Der HC Erlangen, der Gegner, der die Nicht-Abstiegsfeier vermiesen kann, ebenfalls. Die Teams sind gleich auf. Es wird gekämpft, hart zugepackt und gejubelt. Für Abwehr, Angriff und Torwart. Der klebrige Harz hängt an den Fingern der Spieler, am Pfosten oder im Fangnetz. Bälle gehen vermehrt über und nicht in das Tor. Die Halbzeit ruft. Zeit durchzuatmen, neue Kräfte zu sammeln und sich mit einer kalten, zitronigen Fassbrause zu stärken. Wie sich später zeigen wird, wird dieser Zuckerschock mehr als nötig sein.

Der Pfiff zur zweiten Halbzeit erklingt durch die Handballfestung. Das Top-Schiedsrichtergespann Robert Schulze und Tobias Tönnies beruhigen die Gemüter. In der nächsten Sekunde erhitzen sie diese jedoch wieder. Beide haben internationale Erfahrungen, waren bei Olympia 2020 dabei und haben vor knapp drei Monaten das Mühlenkreisderby gegen den TuS N-Lübbecke gepfiffen. Ein ordentlicher Kulturschock. Ihre Entscheidungen werden unter stöhnenden, augenrollenden Fans kritisch beäugt. Der Fokus liegt aber weiterhin auf den Spielern, im grünen Heldengewand. Die Farbe der Hoffnung prägt das Spiel. Ähnlich wie die Klatschpappen, die immer mehr zum Einsatz kommen. Schlussmann Malte Semisch hält seine Mannschaft im Spiel. Wie auch in der gesamten Saison liefert er eine starke Leistung ab. Eine Gesamt-Quote von 34% spricht für sich. Die Energie vom Spielfeld mit Werbung, Schweißflecken und Harzklumpen schwappt in die gefüllten Blöcke mit Zuschauern über. Das Anfeuern wirkt sich auch auf die Mannschaft aus. Ein wiederkehrendes Geben und Nehmen im Mühlenkreis.

15 Minuten. Noch 15 Minuten zittern, hoffen, dem Handballgott entgegen beten. Die 15 der Ostwestfalen, Miro Schluroff, schleudert den Ball in den obersten Winkel des Erlangen Tors. Die Halle bebt, die Herzen pochen. Der Hallensprecher muss lauter werden, das Mikrofon fiept aufgrund des Schreiens. Sprechchöre, Tippen des Harzballes, Pfiffe der Schiedsrichter, das eigene Herzklopfen  und das Herzklopfen der Person neben einem selber bilden die Geräuschkulisse im Handballtempel. Die Wischpausen wegen den Schweißbahnen und der Hitze kommen einem normalerweise gelegen. An diesem Donnerstagabend jedoch nicht. Die Zeit vergeht nicht. Das Dramaspiel um den Klassenerhalt für Minden zieht sich wie die Harzfäden im Topf. Ich gucke immer wieder auf die blinkende LED-Anzeige, angebracht an den kurzen Seiten der Hallenwand. 20:19. Noch sieben Minuten zittern, hoffen, beten. Ein verworfener Siebenmeter löst ein Raunen aus. Heiß und kalt wird es. Das verstärkt sich als Max Staar, Rechtaußen der Mindener, in einer Abwehraktion auf Halbrechts den Ball klaut und Richtung Tor rennt. Es wirkt wie in Zeitlupe. Er springt ab, zielt. Klemen Ferlin, Schlussmann der Nürnberger, bewegt sich in die Richtung des Geschosses. Hat aber keine Chance. Der Ball ist drin. Die Fans springen von den blauen Kunststoffsitzen, auf denen sie 56 Minuten angespannt hin und her gerutscht sind. Die Bank hinter der Bank erhebt sich mit Jubelschreien. Viele Verletzte hatte GWD in der laufenden Saison. Über Knieprobleme, wie bei Doruk Pehlivan, Miljan Pusica und Christoph Reißky, über muskuläre Probleme. Die zwei Tore Führung erblinkt auf der LED-Tafel. Nur noch wenige Minuten bis zum großen Freudenbeben oder bis zur Trauer um eine vergebene Chance.

Der HCE gibt nicht auf. Sie wissen, dass ganz Handballdeutschland auf den Showdown im Abstiegskampf schaut. Einen Kampf, den sie mitentscheiden. Bis in die letzten Sekunden sind sie der zweite Protagonist. Die Party in der grünen Handballhölle verschieben sie auf die letzten Sekunden. Mit zwei Toren in Folge kommen die Franken auf ein Tor heran. Minden hat 30 Sekunden nochmal den Ball. Das Spielgerät, welches am heutigen Abend nicht viele Tore erzeugen konnte. Die Grün-Weißen werfen den Ball fünf Sekunden vor der brummenden Sirene weg. Allen stockt der Atem. Ein langer Pass von Ferlin in Richtung seines Kreisläufers. Die Zeit vergeht noch langsamer als bei Staars Gegenstoß. Alle 3000 Fans, Spieler, Betreuer und die Crew von Sky schauen fixiert auf den fliegenden Ball. Nur einer hat den klaren Durchblick. Rechtsaußen Tomas Urban. Ein Spieler, der in der Sommerpause gar keinen Vertrag hatte, kann zum ostwestfälischen Helden werden. Er ist wie von einem Eimer kaltem Wasser geweckt worden, springt in die Luft und fängt vor Petter Overby den Ball ab. Ein paar Sekunden dauert es, doch dann haben alle realisiert, was beim Brummen der Sirene, beim Abpfiff der Schiedsrichter, geschafft wurde.

Ich gucke hoch Richtung Tribüne. Die Halle steht. Fans liegen sich in den Armen. „Mit einem solchen Hexenkessel im Rücken ist es umso schöner heute gewonnen zu haben“, lacht die grün-weiße Versicherung, Torwart Malte Semisch, in das blau-rote Sky Mikrofon. Einige Tränen fallen auf die Trikots. Wahlweise auf die fast komplett zerstörten Klatschpappen. Das ganze Team stolpert in Richtung des Helden Tomas Urban. Mit diesem Sieg gegen den HC Erlangen ist ihnen das gelungen, was niemand mehr für möglich gehalten hat. „Wir glauben, das war es jetzt“, äußert sich, der mit Schweißperlen besetzte, Trainer Frank Carstens bei Sky. Den Stolz, den er für seine Truppe empfindet, ist ihm auch auf mehreren Metern Entfernung anzusehen. Die Party im Mühlenkreis ist in dem Moment gestartet und richtet einen Jubelschrei aus, den auch die Fans in Lübbecke und Balingen hören können. Diese brauchen dementsprechend nicht auf die Tabelle gucken. Denn die Nicht-Abstiegshelden schicken den roten Rivalen, den TUS N-Lübbecke und den HBW Balingen-Weilstätten aus der ersten Bundesliga, in Richtung des Ortschildes der zweiten Handballbundesliga. Ein tränenreicher Abend in der LIQUI MOLY Handballbundesliga. Die Heimat des Mindener Handballs.

Eine Reportage von Mia-Sophie Reckendorf

(BA-SJ-18-H-VZ). Modul: Journalistische Darstellungsformen


Schlagworte: Frank Carstens, GWD Minden, Handball, Handballbundesliga, HC Erlangen, Malte Semisch, Max staar, Miro Schluroff

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Datum: 20. August 2022
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